EuGH 18. November 2020 Sache C-371/19
Unter Hinweis auf die Bedeutung des Grundsatzes der Mehrwertsteuerneutralität verurteilt der EuGH die Haltung der deutschen Steuerverwaltung, einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer ohne die Möglichkeit einer Regulierung abzulehnen, wenn die erforderlichen Informationen nicht innerhalb der Frist für diesen Antrag übermittelt wurden.
Jeder Steuerpflichtige, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem er Waren und Dienstleistungen kauft oder mehrwertsteuerpflichtige Gegenstände einführt, kann die Erstattung der in diesem anderen Mitgliedstaat zu zahlenden Mehrwertsteuer beantragen (Artikel 170 – Richtlinie 2006/112/EG).
Die in der Richtlinie Nr. 2008/9/EG vom 12. Februar 2008 (besser bekannt als „8. Richtlinie”) vorgesehene in das deutsche Recht übernommene Regelung sieht vor, dass der Steuerpflichtige die Umsatzsteuererstattung über ein elektronisches Portal bis zum 30. September des Kalenderjahres beantragen muss, das auf den Zeitraum folgt, für den die Erstattung beantragt wird. Der Antrag ist von der Erteilung von Auskünften über den Steuerpflichtigen selbst und die betreffenden Umsätze abhängig. Der Mitgliedstaat kann eine Kopie der Rechnung oder des Einfuhrdokuments verlangen, wenn die Steuerbemessungsgrundlage 1000 € (oder 250 € für Kraftstoff) übersteigt, und den Antragsteller auffordern, zusätzliche Informationen vorzulegen.
In der Praxis lehnten die deutschen Steuerbehörden systematisch bestimmte Anträge ab, die als unvollständig angesehen wurden, ohne vorherige Aufforderung, die fehlenden Belege oder Informationen nachzureichen. Nach einer Beschwerde bei der Europäischen Kommission, die zu einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 20. Juli 2018 führte, änderte die deutsche Verwaltung ihre Doktrin (Pressemitteilung vom 12. September 2018) und fordert nun ihre Dienststellen auf, zusätzliche Elemente anzufordern, bevor sie einen Erstattungsantrag endgültig ablehnen können.
Es gab jedoch noch einen Fall, in dem sich die deutsche Verwaltung erlaubte, einen Erstattungsantrag gänzlich abzulehnen, wenn die für die Einreichung erforderlichen Informationen dem Antrag nicht bis zum 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Jahres beigefügt wurden.
Die Kommission war daraufhin der Ansicht, dass dieser Mitgliedstaat seiner Stellungnahme immer noch nicht nachgekommen war, und erhob Klage beim EuGH, um dieses Versäumnis zu rügen.
Der EuGH erinnert daran, dass die in der 8. Richtlinie vorgesehene Frist die Einreichung des Antrags betrifft und nicht die Möglichkeit, diesen zu ergänzen. Wird die Rechnungskopie dem Erstantrag nicht beigefügt, hat dies nicht zur Folge, dass der Antrag als nicht gestellt gilt.
Daraus folgt, dass die deutsche Praxis, unvollständige Anträge abzulehnen, ohne dass der Antragsteller die Möglichkeit hat, die fehlenden Angaben nachzureichen, wenn zum Zeitpunkt der Prüfung die Frist abgelaufen ist, gegen den Grundsatz der Steuerneutralität der Mehrwertsteuer und die Wirksamkeit des Unionsrechts verstößt. Das Recht auf Erstattung ist ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und erfordert die Anerkennung dieses Rechts, auch wenn die formalen Anforderungen vom Antragsteller nicht erfüllt werden. Die systematische Aushöhlung des Rechts auf Erstattung steht in keinem Verhältnis zum Ziel der Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs.
Die auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes gestützten Einwände der Kommission werden jedoch zurückgewiesen, da sich der Antragsteller notwendigerweise der Unvollständigkeit seines Antrags bewusst ist.
Abschließend verurteilt der EuGH die Bundesrepublik Deutschland, die „gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 170 und 171 der Richtlinie 2006/112 sowie aus Art. 5 der Richtlinie 2008/9 verstoßen hat, „dass sie die Anträge auf Erstattung der Mehrwertsteuer abgelehnt hat, die vor dem 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahrs gestellt wurden, denen aber nicht die Kopien der Rechnungen oder der Einfuhrdokumente, die gemäß Art. 10 der Richtlinie 2008/9 von den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der Erstattung verlangt werden, beigefügt sind, ohne die Antragsteller zuvor aufzufordern, ihre Anträge durch die – erforderlichenfalls nach diesem Zeitpunkt erfolgende – Vorlage dieser Kopien zu ergänzen oder sachdienliche Informationen vorzulegen“.
Der EuGH erinnert uns daran, dass die Funktionsweise der Mehrwertsteuer ursprünglich einfach ist: Die Steuer wird auf jeder Ebene einer Umsatzkette erhoben, ohne die Unternehmen zu benachteiligen, da diese die vorgelagerte Steuer von der von ihren Kunden erhobenen Steuer abziehen können. Für Umsätze, die von in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen getätigt werden, ist die logische Folge dieses Grundsatzes das Recht auf Erstattung der lokalen Mehrwertsteuer, das durch die 8. Richtlinie garantiert wird.